RESEARCH ARTS
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So wohnen wir. Fotos: Pia Lanzinger.


Zeitschrift: Schönes Wohnen in der Messestadt Riem.


Erzählen Sie IHRE GESCHICHTE. Fotos: Pia Lanzinger.


Global Village 4560. Eine begehbare Landkarte. Fotos: Pia Lanzinger.

Ein Blick in die Zukunft – zurück zur Erde. Fotos: Pia Lanzinger.


Nowa Huta History Playground. Fotos: Pia Lanzinger.

 

Drei Stücke für Straßenkehrer. Fotos: Pia Lanzinger und José Antonio Ruiz.

 

PetzerFreiheit


Petzer Freiheit. Fotos: Pia Lanzinger.

»Erzählungen aus der Gegenwart sichtbar machen“: Pia Lanzingers’ Ästhetik des Commoning.«

Stella Veciana im Austausch mit Pia Lanzinger.

 

»Partizipation ist eine Form der Zusammenarbeit. Sie ist eine Möglichkeit beispielsweise für Anliegen von Straßenkehrer/innen aktiv zu werden und mit einem gemeinsam entwickelten Projekt in den öffentlichen Raum einzugreifen, wobei ich mir die letzte Gestaltungshoheit einräume«[1], so Pia Lanzinger. Seit den Neunziger Jahren sind öffentliche Beteiligungsprozesse und das Geschichten Erzählen (Storytelling) ihre künstlerische Arbeitsstrategie. Mit Hilfe sozialwissen-schaftlicher Methoden und künstlerisch erweiterter Gestaltungsformate hat sie die verschiedensten Beteiligungstiefen[2] von Partizipation in unterschiedlichsten urbanen und ruralen Kontexten entwickelt. Diese Vorgehensweisen entsprechen einer neuen künstlerischen Praxis des Commoning[3].

Der Fokus einiger ihrer ersten Projekte lag auf Beteiligungsformaten im Bereich des Wohnens[4 ] wie beispielsweise in So wohnen wir[5] (2001). In kleinen Gruppen führten sich die Bewohner/innen gegenseitig durch ihre Wohnräume der noch teilweise sich im Bau befindenden Messestadt Riem, einer Satellitenstadt am Stadtrand Münchens. Sie übernahmen die Führung selbst, denn das gab »den Teilnehmer/innen die Möglichkeit der Mitbestimmung«, erklärt Pia Lanzinger. Sie selbst verstehe sich als Vermittlerin (change agent), die die verschiedenen Lebensentwürfe und Erzählungen der Nachbar/innen in einen lebendigen Austausch bringe. Die Idee der »Wohnwanderungen« sei aus dem Bedürfnis der frisch Zugezogenen entstanden, Kontakte zu knüpfen und sich in der neuen Umgebung besser zurecht zu finden.

Neben diesen kommunikationsfördernden »Wohnwanderungen« konzipierte Pia Lanzinger auch eine eigene Zeitschrift: Schönes Wohnen in der Messestadt Riem. Darin stellte sie die realen Lebensentwürfe der Bewohner/innen vor und hinterfragte kritisch die vorgegebenen Strukturen von Bauträgern. Sie hinterfragte auch den für Wohnzeitschriften typischen Ansatz des »ästhetischen Diktats von Inneneinrichtungen«, sowie den auf Vergleich und Konkurrenz abzielenden Aspekt des »schöner Wohnens«. Denn mit ihrer Arbeit sollte eine »Aufwertung der eigenen Wohnwelten, die Identitätsbildung der Bewohner/innen mit ihrem Stadtteil, sowie die Lust aufs Wohnen und der Austausch von Wohnideen gefördert werden«. Eine Beteiligungsstrategie, die auf gegenseitige Wertschätzung und solidarische Nachbarschaft setzte.

Auch in Erzählen Sie IHRE GESCHICHTE[6] (2000) waren Geschichten des Alltags gefragt. Pia Lanzinger rief Busfahrgäste per Flugblatt und Plakat auf, ihre realen oder fiktiven Erlebnisse bei Linienfahrten ans Institut für Moderne Kunst Nürnberg zu schicken. Von den fünfzig zugesandten Erzählungen brachte sie acht wieder in den Umlauf des Busverkehrs. Sie wollte die Lust am Erzählen und Zuhören wecken und einen Impuls für eine lebendigere Kommunikation im öffentlichen Alltag geben. Ihre Intention war auch, eine Auseinandersetzung zwischen dem Individual- und dem öffentlichen Verkehr in Gang zu setzen: »Privater Transport trägt weitgehend zur Isolierung von Stadtbewohnern bei, während öffentliche Verkehrsmittel die Möglichkeit bieten, mit anderen Mitreisenden zu reden«. Erneut waren Storytelling und ein auf Kommunikation ausgerichteter Beteiligungsansatz die künstlerische Methode.

Für das Projekt Global Village 4560. Eine begehbare Landkarte[7] (2007) befragte Pia Lanzinger die Einwohner/innen der oberösterreichischen Kleinstadt Kirchdorf mit der Postleitzahl 4560 nach ihren persönlichen Beziehungen zu anderen Ländern und Kulturen. Es waren Geschichten, die unter anderen auf Griechenland, Kalifornien, Tansania, Irak, Finnland, Türkei, Kremstal, Bali, Nordkap, Indien, Kanada, Deutschland und Kenia verwiesen. Sie nutzte diese Geschichten als Ausgangspunkte für die Gestaltung von Plakaten, T-Shirts oder Straßentafeln, die sie »als visuelle Markierungen« vor Ort installierte wie beispielsweise in Schaufenstern von Restaurants, Cafés, Reisebüros, Kinos und Fair-Trade-Läden.

Mit dieser stadtweit integrierten Arbeit habe sie »die herrschende Norm des traditionellen und homogenen Stadtbildes« durchbrochen. »Die globalisierte Kleinstadt und ihre heterogenen Identitäten werden im Stadtgefüge sichtbar gemacht«, sagt Pia Lanzinger. Dadurch werden die heterogenen Identitäten offen begehbar und direkt erfahrbar – anders als viele Top-Down- und Zeigefinger-Kampagnen zur Integration von Migrant/innen. Mit ihrer Methode der Vor-Ort-Befragung erforscht sie die Stimmungslage von Innen heraus, mit und aus der Alltagserfahrung der Anwohner/innen. Ihre städtische Interventionen bauen auf das Vorhandene auf und bieten neue Möglichkeiten der Kommunikation im öffentlichen Raum (shared space) der Stadt. In den Projekten Ein Blick in die Zukunft – zurück zur Erde[8] (2003/04) im Bremer Hafenbezirk Gröpelingen und Nowa Huta History Playground[9] (2005/06) in der polnischen Arbeiterstadt Nowa Huta bekommen Lanzingers städtische Partizipationsformate einen politisch zukunftsorientierten Charakter.

Ähnlich wie in Kirchdorf suchte Pia Lanzinger auch in Gröpelingen den Austausch mit den Anwohner/innen. Über einen Zeitungsartikel und Flugblätter wurden die Anwohner/innen aufgefordert, ihre persönlichen Erzählungen und Zukunfts-visionen zu ihrem Stadtteil aufzuschreiben. Die Ergebnisse wurden in einer eigenen Publikation dokumentiert und eine Serie von Erzählungen in der Zeitung Weser-Kurier publiziert. Zu dieser Zeit versuchte die Gröpelingener Stadtplanung das heruntergekommene Hafenarbeiterviertel mit einem Einkaufs- und Vergnügungspark, den Space Park, wieder aufzuwerten. Diese Planung floss zum Teil in die Geschichten ein. Die Gröpelinger Autor/innen imaginierten das zukünftige Gröpelingen zum Beispiel als zentralen Anlaufpunkt für Raumkreuzer, die Liniendienste innerhalb unseres Sonnensystems bedienen, oder als eine grüne Parklandschaft mit frei herumlaufenden Tieren oder als eine Stadt, deren Straßen von Robotern gereinigt werden.

Die Rechnung der Stadt, die glaubte, die Werftenindustrie durch die Konsum-industrie ersetzen zu können, ging jedoch nicht auf: Die weltraum-technologischen Zukunftsvorstellungen der Investor/innen entsprachen nicht denen der Einwohner/innen des Einzugsgebietes. Das Kaufzentrum wurde wegen mangelnder Ladenmieter nie eröffnet und das Space Center aufgrund von Besuchermangel geschlossen. Heute können wir uns die Frage stellen, was passiert wäre, hätte die Stadtverwaltung die Wünsche und Ideen der Einwohner/innen in die Gestaltung des öffentlichen Raumes einzubinden versucht. Pia Lanzingers Projekt brachte nicht nur »die einseitig verordnete Stadtplanung«, sondern auch den konkreten Mangel an geeigneten Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsverfahren der Einwohner/innen in Gröpelingen zur Sprache.

Sie zeigte auch auf fehlendes gestalterisches Denken hin: Wie könnte von der Zukunft in die Gegenwart gedacht werden? Dieses Thema griff sie auch in der Arbeit für Nowa Huta auf. Dort entwickelte Pia Lanzinger ein Zukunftsszenario für 2050, in der die ehemalige ideale Arbeiterstadt Stalins, heute ein Anhängsel Krakaus, in einen Themenpark verwandelt wurde, der den historischen Wandel vom »Aufstieg zum Verfall der Stahlproduktion« und »des Sozialismus zum Kapitalismus« inszenierte. Im Zukunftsszenario der Künstlerin hatte eine amerikanische Eventagentur die Stadt aufgekauft, um den Nowa Huta History Playground zu errichten. Im Zentrum der Stadt warb Pia Lanzingers initiierte reale Kundgebung mit Bannern, Musik und einer Broschüre für den fiktiven Nowa Huta History Playground, um auf die gegenwärtigen Probleme der Arbeitslosigkeit und auf die übermäßige urbane Tourismusindustrie aufmerksam zu machen.

»Durch die fiktive Retro-Perspektive (Anmerkung: eine Art vierdimensionales
Futur II) und das Mittel der Überzeichnung wird versucht, eine Entwicklung hervorzuheben, in der die Städte zunehmend zu Objekten einer kommerziell und touristisch orientierten Regie werden, die bereit ist, dem Unterhaltungs- und Freizeitwert den Lebensraum einer demokratischen Öffentlichkeit zu opfern«, schreibt Pia Lanzinger[10]. Ihre Arbeit verweist auf mögliche zukünftige Arbeits- und Lebensbedingungen. Dieses Denken aus der Zukunft ermöglicht es nicht nur zukünftige Entwicklungen mit unserer Gegenwart zu verbinden, sondern tatsächlich sozial-politisch relevante Erzählungen für die Gegenwart zu entwickeln.

Pia Lanzingers wegweisender Ansatz des Denkens aus der Zukunft findet sich heute auch in anderen Kontexten wieder. Seit 2012 setzt die Futur Zwei-Stiftung Zukunftsfähigkeit[11] genau diese Strategie des Denkens aus der Zukunft und des Geschichten Erzählens für »das Aufzeigen und Fördern alternativer Lebensstile und Wirtschaftsformen« ein. Mit einem Online-Zukunftsarchiv sollen Handlungs-spielräume aufgezeigt werden wie »bessere, gerechtere und glücklichere Lebensstile« Wirklichkeit werden können. Dabei sei die Futur Zwei-Stiftung »nicht als ein Netzwerk oder Community« zu verstehen. Vielmehr sehe sie ihre Aufgabe in der Förderung einer Sammlung von Geschichten des Gelingens, die von der »Nische in den Mainstream« übertragen werden können.

Dagegen werden die Geschichten bei Pia Lanzinger im Alltag unmittelbar erfahrbar. Die Künstlerin bringt gerade durch ihre Gespräche und Aktionen vor Ort die Erzählungen der Einwohner/innen in direkten Austausch. Ob Aufruf oder Demonstration, beide Formate integrieren bei Pia Lanzinger das Fiktive in die Gegenwart des Erlebens. Allerdings intendieren die beschriebenen künstlerischen Arbeiten nicht, eine direkte Wirkung auf politische Entscheidungen zu haben. Vielmehr machen sie darauf aufmerksam, dass es noch heute an geeigneten politisch verankerten deliberativen Strukturen fehlt, die ein juristisches Recht auf Mitentscheidung gewähren.

In den jüngsten Arbeiten Pia Lanzingers bekommt die unmittelbare Wirkung der Beteiligungsformate auf das Alltagsleben der Teilnehmenden eine größere Bedeutung wie beispielsweise in der Großstadt Mexiko Drei Stücke für Straßenkehrer[12] (2010) und im Pendlerdorf Petze Petzer Freiheit[13] (2011). Von der Großstadt bis zum Pendlerdorf stellt die Künstlerin die komplexen Auswirkungen unserer Arbeitsbedingungen auf den öffentlichen Raum zur Debatte. Die Künstlerin gestaltet die Rahmenbedingungen, die es den Teilnehmer/innen ermöglicht, ihren eigenen Einfluss beziehungsweise ihre Wirkung auf ihr konkretes Lebensumfeld selbst zu erproben. Durch diesen Fokus auf die Selbstwirksamkeit der Teilnehmer/innen entwickelt Pia Lanzinger was wir heute als eine neue Form der Ästhetik des Commoning benennen können: Sie initiierte einen künstlerischen Rahmen, in dem beispielsweise Straßenkehrer/innen ihre Rolle im öffentlichen Raum und das urbane Müllproblem thematisierten. Dabei erfuhren sie, wie sie Eigenverantwortung für ihre Arbeitsbedingungen übernehmen beziehungsweise wie sie gemeinsam den öffentlichen Raum mitgestalten können. Nicht zuletzt ermöglicht diese Ästhetik des Commoning auch Modelle für eine neue Form partizipativer Governance[14].

Im Rahmen des deutsch-mexikanischen Ausstellungsprojekts residual[15] über die mexikanische Müllproblematik entwickelte Pia Lanzinger Drei Stücke für Straßenkehrer. Die Straßenkehrer/innen (Barrenderos) wurden zu Protagonisten drei verschiedener Bühnenauftritte in der Altstadt von Mexiko-Stadt. Sie gestalteten ihre Aufführungen größtenteils selbst, mit der künstlerisch formalen Vorgabe als Chor (Coro) auf einer rechteckigen Bühne, als Gruppenportrait (Retrato de Grupo) auf einer runden Bühne und als Einzeldarsteller auf einem Sockel (Zócalo) aufzutreten. Der Untertitel Vom Unsichtbaren zum Sichtbaren deutete auf die schwierigen Arbeitsbedingungen der Müllentsorger/innen in einer »konsumistisch geprägten Ordnung großer Innenstadtbereiche« hin. Pia Lanzinger dazu: »Mit den Aufführungen wurde diese tendenzielle Unsichtbarkeit für einige Momente aufgehoben, indem sich die Barrenderos, die ihre Stücke weitgehend selbst konzipierten, als Personen mit einer eigenen Perspektive und eigenen kulturellen Ansprüchen präsentieren«.

Interessant ist hierbei, wie auch diejenigen zu partizipieren versuchten, die nicht gefragt waren. So verlangten die mexikanischen Kurator/innen von residual, dass die künstlerischen Projekte einen didaktischen Charakter haben sollten. Die Konsument/innen sollten anregt werden, ihren Müll nicht einfach auf die Straßen der Altstadt zu werfen, sondern sachgerecht zu entsorgen. Für die Verbreitung dieser Inhalte sollten die Straßenkehrer/innen »funktionalisiert« werden. »Die Idee, Müllentsorger/innen selbst ihre Geschichten und Erfahrungen erzählen zu lassen, stieß bei den Kurator/innen auf heftigen Widerstand – schließlich wollte man ja keinen Aufstand anzetteln. Dies fiel ihnen allerdings erst bei der sechsten Aufführung ein« betont Pia Lanzinger. Die Barrenderos hätten sich jedoch gemeinsam mit der Künstlerin die geforderte Zensur verbeten. Zudem stärkte ein offizieller Unterstützerbrief der Stadtreinigungsbehörden dem Projekt den Rücken, so die Künstlerin weiter.

Um die Aufführungen vorzubereiten, lud Pia Lanzinger die Straßenkehrer/innen ein, ihre Erfahrungen mit Unterstützung zweier Musiker in Lieder zu fassen. In mehreren Proben diskutierten sie angeregt über ihre Alltagserlebnisse und gesellschaftliche Situation. Alejandro zum Beispiel beschrieb in einem Text, wie er versuchte, seine Selbstachtung aufrecht zu halten und seine Gefühle zu kontrollieren, wenn er während der Arbeit immer wieder persönlich beleidigt wurde. »Es ist eine Arbeit, die keine Demütigung verdient, wir sind alle wichtig, wir sind alle Menschen, die ein Bewusstsein dafür haben sollten, dass dies unsere Welt ist, aber auch die unserer zukünftigen Kinder sein wird.« Auch in den Liedern kam ihre Unsichtbarkeit, die benötigte Ausdauer für diese Arbeit und der Apell nach mehr Rücksichtnahme vor: »Ich fege und fege und werde nie müde, ich reinige und reinige meine Stadt, ich singe und säubere dabei, und niemand weiß, wer es machen wird, am Nachmittag und am Abend, und bitte verschmutzen Sie nicht mehr.«[16]

Angesichts des Vorurteils Straßenkehrer/innen seien ungebildet, stellt sich die Frage, wer hier eigentlich wen bildet, gerade was einen verantwortungsvollen Umgang mit Umwelt und Mitmenschen betrifft. Durch den Ansatz des Commoning bekamen die Alltagserfahrungen der Straßenkehrer/innen eine Stimme, die sie künstlerisch mit anderen teilen wollten und konnten.

Die Künstlerin sowie die zwei Musiker unterstützten die Barrenderos bei der künstlerischen Entfaltung. Eine begeisterte und wertschätzende Atmosphäre gedieh in den gemeinsamen Proben für die Bühnenchoreographien. Der künstlerische Prozess wirkte sich nicht nur auf eine gute Stimmung aus, sondern auch auf die unmittelbare Anerkennung der Barrenderos am Arbeitsplatz. Die Stadtreinigungsbehörde solidarisierte sich mit den Arbeiter/innen, nicht nur durch die Freistellung von Zeitressourcen, sondern auch mit dem vorab erwähnten Unterstützerbrief.

»Die Passant/innen reagierten unterschiedlich auf die Aufführungen, einige waren verblüfft und irritiert, andere lachten oder tanzten einfach mit«, erinnert sich die Künstlerin. Anders als die  Künstlerin hätte es möglicherweise eine/n Sozialwissenschaftler/in interessiert, inwiefern die Aufführungen tatsächlich das Verhalten der Menschen verändert haben mag. Entscheidend für das künstlerische Projekt war jedoch insbesondere die Erfahrung der Selbstwirksamkeit der Straßenkehrer/innen. Durch Pia Lanzingers Ansatz des Commoning als Prozess der Teilhabe entstand bei den Beteiligten das Gefühl, das Leben selber in die Hand nehmen zu können beziehungsweise die Möglichkeit, gemeinsam Zukunft gestalten zu können. Auch die dominierende Vorstellung, es gäbe zu Privatbesitz, Wachstum und Konsum keine Alternative, wurde tatkräftig hinterfragt, indem eine gemeinsame Vorstellungskraft belebt wurde. Diese ermöglicht aber erst Menschen solidarisch miteinander und gegenüber der Welt zu handeln.

Ein weiteres Projekt, das zu einer gemeinsamen Vorstellungskraft aufforderte, konzipierte Pia Lanzinger für das niedersächsische Petze, ein Pendlerdorf mit 516 Einwohner/innen. Die Dorfbewohner/innen waren hier die Protagonist/innen. Welche Auswirkungen haben die Arbeitsbedingungen von Pendler/innen auf den öffentlichen Raum? Dieses Thema hatte die Künstlerin schon für die Messestadt Riem aufgegriffen, wo sie »Wohnwanderungen« organisierte, um die Kommunikation der Einwohner/innen anzuregen. Mit eben diesem Anliegen entwickelte sie nun gemeinsam mit interessierten Einwohner/innen die Idee, einen eigenen Dorfplatz zu gestalten. Denn das ehemalige Straßendorf hatte nie einen solchen besessen. Vom Bauerndorf verwandelte es sich zu einer Wohnsiedlung im Einzugsbereich einer Großstadt, in der Pendler/innen nur noch mit ihren Autos vom Eigenheim direkt zum Arbeitsplatz hin- und zurückfuhren, und einen Zwischenstop im auf der Strecke liegenden Supermarkt einlegten. Bei dieser Entwicklung gingen die meisten Kommunikationsstrukturen des Dorfes verloren, bis auf den Petzer Kulturverein. Dieser ergriff auch die Initiative, die Künstlerin für ein partizipatives Projekt einzuladen, insbesondere um neue Kommunikationsmöglichkeiten zu schaffen.

Das Motto des Projekts Eine Idee entsteht – ein Dorf nimmt Platz – Petze wird rund beschreibt den Entstehungsprozess des Platzes. Durch Ankündigungen und Veranstaltungen wie einem festlichen Dinner im Freien lud Pia Lanzinger die Einwohner/innen ein, den Dorfplatz mitzugestalten. Der Platz bekam den vielsagenden Namen Petzer Freiheit. Ein Name, der einen Frei-Raum mitschwingen ließ, um gemeinsam etwas Neues zu gestalten. »Jedoch wurde dieser Möglichkeitsraum, der von Anfang an für alle Einwohner als offener Begegnungsort gedacht war, von einigen Bewohner/innen tatkräftig boykottiert oder schlicht ignoriert. Wie in vielen öffentlichen Gestaltungsprozessen stießen auch in diesem Fall unterschiedliche Interessen, Meinungen und Gefühle aufeinander. Es wurden beispielsweise Versuche unternommen, den Bürgermeister gegen das Projekt zu beeinflussen oder klammheimlich Ankündigungsplakate abgerissen«, beschreibt die Künstlerin die Reaktion einiger Einwohner/innen.

Pia Lanzinger ließ sich aber davon nicht abhalten und der Platz nahm langsam Gestalt an. In »40 Metern Freiheit« gestaltete sie eine Pflasterbemalung, stellte sie die Bänke der Vorgärten der Petzer auf den Platz und bemalte sie mit einem poetischen Text. Mit neuen Straßenschildern und einem Schaukasten für Mitteilungen wurde abschließend der gemeinsam gestaltete Platz feierlich eingeweiht. Schließlich sorgte sie mit einem Vorschlag zur baulichen Umgestaltung des Platzes auch für weitere zukünftige Zusammentreffen der Einwohner/innen. Kurzum, auch für Petze entwickelte Pia Lanzinger erste Schritte zur Vorstellung einer neuen Form partizipativer Governance, die die gemeinsame Verantwortung, den solidarischen Zusammenhalt, die menschlichen Beziehungen und eine generationen-übergreifende Nachhaltigkeit erprobte.

Dass die von Pia Lanzinger entwickelten Beteiligungsformate auch Widerstand auslösten, versteht sich von selbst und ist Teil eines jeden gesellschaftlichen Transformationsprozesses. Auch innerhalb der Kunst ist die politische Dimension einer solchen Ästhetik des Commoning umstritten. Die Ästhetik des Commoning hat keine Angst politisch vereinnahmt zu werden, fürchtet nicht um die Freiheit der Künste. Mit „Mut statt Wut“[17], bringt es Claus Leggewie auf den Punkt. Hier ist der Mut gemeint, sich gesellschaftlichen Widerständen und gegenwärtigen Dilemmas zu stellen. Die Ästhetik des Commoning setzt dadurch ein Selbstverständnis der Künstler/innen als politisch aktive Bürger/innen (change agent) voraus. Ein Selbstverständnis, das über kritische und zynische Analysen gegenwärtiger Lebensumstände hinausgeht und mutig versucht, konstruktive Beteiligungsformate für eine erweiterte Vorstellung von Demokratie zu entwickeln. Wut-Künstler/innen werden zu Mut-Künstler/innen.
 
Zu dieser Ästhetik des Commoning trägt Pia Lanzinger durch ihre vielfältigen sozial-wissenschaftlichen Methoden und künstlerisch erweiterten Gestaltungsformate maßgeblich bei. Ihre Methoden sind dem jeweiligen Kontext eines klar umrissenen Partizipationsprozesses angepasst. Er bestimmt den Gestaltungsrahmen: welches Ziel der Prozess verfolgt, über welche Themen diskutiert wird, welche Handlungsspielräume vorhanden sind und wie viele Ressourcen – zeitlich und finanziell – für den Beteiligungsprozess zur Verfügung stehen. Wie sich die künstlerisch initiierten Prozesse auf persönlicher oder gesellschaftlicher Ebene weiterentwickeln, bleibt dabei offen. Zu Pia Lanzingers Methoden gehört das Gespräch vor Ort, eine Form der ethnologischen Feldarbeit im direkten Austausch mit den Menschen vor Ort. Doch nicht nur die Befragung steht im Mittelpunkt, sondern auch die kritische Hinterfragung. In ihrer für die Messestadt Riem entwickelten Zeitschrift adaptiert sie das Format einer Wohnzeitschrift für das sie Interviews führt, Artikel schreibt und Fotos aufnimmt. Selbiges Format hinterfragt sie mit einem kritisch journalistischen und künstlerischen Blick.

Hinzu kommt die gestalterische Qualität ihrer Beteiligungsformate, die mit künstlerischen Mitteln Menschen motivieren, sich bei den angebotenen Austauschprozessen aktiv einzubringen. In Petze hat Pia Lanzinger beispielsweise die klassischen Beteiligungstiefen von Partizipation – von Informations-veranstaltungen und Aushänge, über Befragungen und Diskussionsveranstaltungen bis hin zu gemeinsamen Aus- und Mitgestaltungsprozessen – künstlerisch erweitert und einen shared space gestaltet. Zu ihren künstlerischen Mitteln gehört auch die Methode der Stadtführung. Hinzu kommen die Techniken des Storytellings und der Fiktionalisierung, die weitere Gestaltungs- und Kommunikationsspielräume einer Ästhetik des Commoning eröffnen.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf Silke Helfrichs[18] Verständnis von Commoning verweisen. Commoning sei mehr als das Teilen von Gemeingütern und als die Entwicklung von gemeinschaftlichen Organisations- und Eigentumsformen. Commoning setzte soziale Prozesse in Gang und erzeuge »Räume der Gemeinschaftlichkeit«[19]. Diese Räume gilt es partizipativ zu gestalten. »Partizipation ist Zusammenarbeit«, sagt Pia Lanzinger. Ihre Ästhetik des Commoning zeigt uns, wie das gehen kann: unsere eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen zu hinterfragen, lebensnahe Anliegen gemeinsam anzugehen, Ängste zu überwinden, mit Freude neue Wege mitzugestalten, mutig in den öffentlichen Raum einzuwirken, als change agents aktiv zu werden und für eine neue Form partizipativer Governance einzutreten. Eine künstlerisch solidarische Praxis des Commoning gibt uns die Erfahrung der Selbstwirksamkeit, die notwendig ist, um die Freiheitsräume unserer Zukunft zu gestalten.


1. Zitate aus Gesprächen mit Pia Lanzinger am 3. Mai und 20. Juli 2013 in Berlin.

2. Mehr zu Beteiligungstiefen: http://www.partizipation.at/anwendung.html#c302 (9.08.2013)

3. Commoning wird definiert als „der Akt der Schaffung, des Aufbaus und der Erhaltung von Commons [Gemeinschaftsgüter]“ bzw. als ein „Verb, um die sozialen Praktiken zu beschreiben, die von Commoners [Bürger] in Zusammenhang mit der Verwaltung gemeinsamer Ressourcen anwenden (...). Bekannt geworden durch Historiker Peter Linebaugh.“ Siehe: http://p2pfoundation.net/Commoning (1.07.2013)

4. Ein weiteres Beispiel ist „Terrassenparty. Archiv einer Wohngemeinschaft“: „(...) dem Modell ‚WG’ und seiner Historie wird damit ein temporäres Denkmal gesetzt und danach gefragt, inwieweit es auch heute noch alternative Lebensformen praktisch erprobtund als Möglichkeiten bereit hält“, so Lanzinger. Installation auf einer Dachterrasse mit 31 Topfpflanzen, Pflanzenanhängern und Audiopart, 2004.

5. „Wohnwanderungen”, Wohnzeitschrift „So wohnen wir“, Video (35 min 58 sec). Wohnwelten, kunstprojekte_riem, Messestadt Riem/München 2001

6. Siehe: http://www.kubiss.de/kultur/projekte/log.in/programm/lanzinger.htm

7. Installation an 26 Stationen im öffentlichen Raum und in den Läden einer Ortschaft mit Schriften in der Art von Werbedisplays, 2007. Festival der Regionen, Fluchtwege und Sackgassen, Kirchdorf an der Krems, Oberösterreich, 2007.

8. „Ein Blick in die Zukunft – zurück zur Erde“. Projekt über die Visionen eines Hafenbezirks, 2003/04. Lichthaus Plus Neue Kunst, Öffentlicher Raum, Bremen / Gröpelingen.

9. „Nowa Huta History Playground“. Broschüre und Aktion im öffentlichen Raum von Nowa Huta (Broschüre, Banner mit Parolen und Musik formal an eine sozialistische Kundgebung angelehnt), 2005/06. Industriestadtfuturismus. 100 Jahre Wolfsburg / Nowa Huta, Kunstverein Wolfsburg 2005. Industrial Town Futurism. 100 years Nowa Huta / Wolfsburg, öffentlicher Raum, Nowa Huta/Polen 2006.

10. op.cit.

11. Zur Futur Zwei-Stiftung siehe: http://futurzwei.org und http://beste-stadt.net/blog/2012/02/03/futur-zwei-stiftung-zukunftsfahigkeit-ist-gestartet/und zum Projekt »Von der Nische in den Mainstream. Wie gute Beispiele nachhaltigen Handelns in einem breiten gesellschaftlichen Kontext verankert werden können.« ist mehr Inforamtion hier zu finden: http://www.norberteliascenter.de/forschung/von_der_nische_in_den_mainstream

12. „Tres piezas para barrenderos. De lo invisible a lo visible.“ | „Drei Stücke für Straßenkehrer. Vom Unsichtbaren zum Sichtbaren“. Drei verschiedene Auftritte auf drei unterschiedlichen geometrischen Bühnen
mit Straßenkehrern im Centro Histórico von Mexiko-Stadt (1. Pieza: Zócalo, 2. Pieza: Retrato de Grupo, 3. Pieza: Coro), UNAM und Goethe-Institut von Mexiko-Stadt, öffentlicher Raum und Muca Roma, 2010.

13. „Petzer Freiheit. Eine Idee entsteht – ein Dorf nimmt Platz – Petze wird rund.“ Aktionen, Veranstaltungen und Installationen zur Etablierung eines Dorfplatzes im Straßendorf Petze öffentlicher Raum, Petze / Niedersachsen, Deutsche Stiftung Kulturlandschaft, 2011.

14. Governance: „Der Ausdruck ist – im politischen Umfeld – alternativ zum Begriff Government (Regierung) entstanden und soll ausdrücken, dass innerhalb der jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Einheit Steuerung und Regelung nicht nur vom Staat („Erster Sektor“), sondern auch von der Privatwirtschaft („Zweiter Sektor“) und vom „Dritten Sektor“ (Vereine, Verbände, Interessenvertretungen) wahrgenommen wird.“ Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Governance (21.07.2013)

15. „residual. Intervenciones artísticas en la ciudad“ | „Residual. Artistic interventions in the City“. Nationale Autonome Universität von Mexiko UNAM und das Goethe-Institut von Mexiko-Stadt, 2010.

16. Lied in Originalsprache: Barro y barro y no me canso / limpio y limpio mi ciudad / voy cantando y voy limpiando / y nadie sabe quien lo hara / en la tarde y en la noche / y por favor no ensucien más.

17. Claus Leggewie, „Mut statt Wut: Aufbruch in eine neue Demokratie“. Edition Körber-Stiftung, Hamburg, 2011.

18. Silke Helfrich, Commons fallen nicht vom Himmel. In: oya, anders denekn, anders leben. 4. Jahrgang, Ausgabe 20, Mai/Juni 2013. S. 14-18.

19. Gustavo Esteva bezeichnet die neuen sozialen Räume, die durch das Commoning entstehen Räume der Gemeinschaftlichkeit / »espacios de comunalidad«. op.cit.




stella veciana

Pia Lanzinger - Studies in Communication Sciences, American cultural history and art history at the Ludwig-Maximilian-University, Munich and Photography at the Bavarian State School, Munich. Her artistic career includes international exhibitions, working and project grants as well as residencies in South Korea, Worpswede, Paris and Edinburgh. She worked as lecturer at colleges and universities, as jury member and as a curator of exhibitions in art institutions and public spaces. Pia Lanzinger works as an artist in Berlin. more

stella veciana

Dr. Stella Veciana Dr. Stella Veciana - Studies in experimental arts (Universität der Künste, Berlin) and computer arts (School of Visual Arts, New York). Doctorate on the intersection of art, science, technology and society (Faculty of Fine Arts, UB). She is the founder of the Research Arts platform dedicated to transdisciplinary and participatory artistic research for sustainability. Her artistic work has been exhibited internationally in museums, galleries, art centers and festivals as well as in foundations, NGOs, universities, research centers and congresses (Akademie der Künste Berlin, Kunsthalle Nürnberg, Hangar Barcelona, UNESCO, Heinrich-Böll Foundation, Bread for the world, ZEF Development Research Center, Degrowth Conference, KIBLIX Festival, etc.). She has extensive university teaching experience (Faculty of Fine Arts Barcelona, Leuphana Universität Lüneburg, Technische Universität Berlin, Universidad Politécnica Valencia, University of Saskatchewan Canada, etc.). Collaborator and researcher in inter/national projects (Forschungswende, Soft Control, PIPES, Living in sustainable villages, etc.). Manager of national and European projects (ICN). Development of higher education learning processes in "real world laboratories" for sustainability (between ecovillages and Leuphana Universität). Member of the Federation of German Scientists VDW. more

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